Haapsalu

 In Estland 2019

Haapsalu, Freitag, 30. August 2019
Bullerbü und mittelalterliche Musik

Nach der kurzen Nacht in Tallinns Innenstadt wurden wir früh morgens brutal von einer Straßenkehrmaschine geweckt, die direkt am Wohnmobil vorbeifuhr. Verständlicherweise waren wir daher nicht top fit und entschieden uns gegen einen weiteren Besuch der Altstadt, frühstückten kurz und fuhren weiter nach Haapsalu, einem kleinen beschaulichen Ort, knapp 100 km in südwestlicher Richtung an der Ostseeküste.

Was zog uns nach Haapsalu? Wir hatten in den Tagen zuvor im Fernsehen auf NDR einen Bericht gesehen, kommentiert von unserem Lieblingssprecher Volker Lechtenbrink, in dem Haapsalu als „estnisches Bullerbü“ beschrieben wurde. Es hatte u.a. damit zu tun, dass die estnische Illustratorin Ilon Wikland hier, bei ihren Großeltern, ihre Kindheit verbracht hatte und später die meisten der Kinderbücher Astrid Lindgren’s gestaltet hat. Sie brachte ihre Eindrücke und Kindheitserlebnisse von Haapsalu in berührender und zauberhafter Weise zu Papier und begeisterte mit ihren Zeichnungen Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Aber hierzu ein wenig später. Weitere Recherchen im Internet rundeten das Bild ab und wir fuhren (ca. 1 ½ Stunden) zu dieser vielversprechenden kleinen Stadt. Nach den Erlebnissen in der Großstadt Helsinki stand uns der Sinn nach Beschaulichkeit und etwas Ruhe.

„Park4Night“ hatte alles richtig gemacht und uns auf einen zauberhaften Stellplatz im Grünen, mit Blick auf die Ostsee und einem kleinen Strand geführt. Wohnmobil abstellen und sofort raus auf Entdeckungstour!

Stellplatz an der Ostsee

Stellplatz an der Ostsee

Tallinn - Haapsalu

Tallinn – Haapsalu

Haapsalu (ca. 13.600 Einwohner) ist Romantik pur, wie wir schnell feststellten. Wir liefen an der Promenade des Väike Sees entlang und  bogen dann ab in die kleinen Straßen Richtung Zentrum. Die meisten Holzhäuser in bunten Farben sind liebevoll restauriert, Bäder-Architektur lässt grüßen, Fredericks Fotos sagen dazu etwas mehr. In einem Augenblick hatte der Ort unsere Herzen erobert! Ein echtes Bullerbü!

Schmuckes Holzhaus

Schmuckes Holzhaus

Blick über den Väike See

Blick über den Väike See

Im Städtchen sahen wir ein Plakat mit dem Hinweis auf ein Konzert in der St. Johannes Kirche, Beginn 19 Uhr. Das Programm: “Jeruusalemm” (In dieser Schreibweise). Es ging um mittelalterliche Musik, gespielt von neun Musikern der Gruppe „Hortus Musicus“, ein estnisches Ensemble, 1972 von Andres Mustonen gegründet, Karten an der Abendkasse. Das interessierte uns, allerdings hatten wir keine Vorstellung, was uns da erwartete, waren einfach neugierig und wollten uns überraschen lassen.

Holzhaus wird renoviert

Holzhaus wird renoviert

Partnerstadt Rendsburg

Partnerstadt Rendsburg

Hortus Musicus Ensemble

Hortus Musicus Ensemble

Zurück im Wohnmobil war noch Zeit zum Abendessen, dann ging’s ab in die Kirche zum Konzert. Der Eintritt kostete 12€ pro Person und der kleine Kirchensaal war nahezu überfüllt. Mit knapper Not bekamen wir die letzten beiden Plätze. Naja, dann muss es sich wohl um bekannte Musiker handeln. Die Spannung stieg! Ein Pastor begrüßte die Anwesenden, wir mussten uns alle erheben und die Ansprache dauerte gute 10 Minuten. Da wir natürlich kein Wort verstanden, dauerte es für uns gefühlt doppelt so lange. Dann endlich begannen die Musiker zu spielen. An Instrumenten waren dabei: Violine, Cello, Posaune, Kontrabass, Blockflöte und einige ältere Flöten (Bombarde z.B.), Trommeln und Zimbeln. Die Sänger waren zwei Tenöre und ein Bariton. Der Violinist (Anders Mustonen) gab schwungvoll den Ton an und es war einfach bewundernswert, wie er seine Mitspieler im Griff hatte.

Es war ein ganz wunderbarer Abend! Die junge Frau neben mir erklärte, dass es sich um eine wirklich berühmte Gruppe handelte, die weltweit auftrat und Konzertsäle füllte. Für uns wieder erstaunlich, dass niemand nach den einzelnen Stücken applaudierte, sondern erst am Schluss und das dann so lange, dass die Musiker (nach einer Stunde war das Konzert eigentlich beendet) zwei Zugaben spielten. Für uns eine tolle neue Erfahrung, diese so ganz andere Musikrichtung. Kostprobe: Hortus Musicus Noch mit den Klängen der mittelalterlichen Musik in den Ohren schliefen wir in dieser Nacht besonders gut ein.

Villa Frieda, Pension im traditionellen Stil

Villa Frieda, Pension im traditionellen Stil

Sonnenuntergang am Stellplatz in Haapsalu

Sonnenuntergang am Stellplatz in Haapsalu

Haapsalu, Samstag, 31. August 2019
Ein unfreundlicher Hafenmeister und Ilon’s Wonderland

Nach einem gemütlichen Frühstück wanderten wir erstmal zur kleinen Marina. Wir mussten dringend waschen und erkundigten uns, ob es dort möglich sei. Waschmaschine vorhanden, aber nur für Segler, bestimmte der Hafenmeister in nicht gerade entgegen kommendem Ton. Da war nichts zu machen, gegen so einen unfreundlichen Typen kamen wir nicht an. Es gäbe eine Wäscherei im Einkaufszentrum in der Postis Str. Dort tigerten wir dann hin, konnten die Wäscherei aber nicht finden. Schließlich half uns ein netter Sicherheits-Mitarbeiter des Supermarktes weiter. Die Wäscherei befand sich in den Katakomben unter dem Einkaufszentrum. Allein hätten wir das nie gefunden. Leider verlangte man dort für das Waschen 4,50 Euro pro Kilo. Das war uns dann doch etwas zu happig.  Also weiter suchen …  Aus dem Touristenbüro hatten wir uns am Tag zuvor schon mit Material eingedeckt – und es gab wirklich viel zu sehen und nachzulesen. Haapsalu bekam seine Stadtrechte bereits in 1279 und war eine der neun mittelalterlichen Städte Estlands. Jahrhunderte später entdeckte ein Militärarzt den Heilschlamm in der Gegend, das erste Heilbad wurde 1825 eröffnet. Von da an ging’s bergauf: aus aller Welt kamen die Heilung Suchenden, auch die russischen Zaren (Peter I., Alexander I., II. und III. und nicht zuletzt 1880 Nicholas II.) wollten sich von Rheuma und anderen Beschwerden hier kurieren lassen. Auch der Musiker Tschaikowski kam im zarten Alter von 27 Jahren nach Haapsalu und ließ sich in einem Sommer von dem Ort verzaubern und inspirieren. Auch heute werden die vielen Angebote an Wellness angenommen und Besucher kommen hierher zur Kur. Mit einem alten, se kleinen Dampfboot („Kallis Mari“= Liebe Mari , 1955 in Schweden gebaut) kann man eine kleine Vergnügungsfahrt auf dem Väike See unternehmen.

Dampfboot "Kallis Mari"

Dampfboot “Kallis Mari”

Seepavillion

Seepavillion

Wir durchkreuzten die ganze Stadt und kamen am berühmten Bahnhof an, zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut: der 216 m lange überdachte Bahnsteig hat sich bei allen Reisenden ins Gedächtnis eingebrannt, sowas gibt’s nur einmal in Nordeuropa! Auch hier spielte es eine Rolle, dass der Zar mit Gefolgschaft an diesem Bahnhof würdig empfangen wurde. So gab es einen separaten Raum für die Herrschaften. Der Besuch der Bahnhofstoilette sollte – schlage ich vor – als Sehenswürdigkeit Nr. 1 empfohlen werden , nicht nur, dass man hätte vom Fußboden dort essen können (aber wer will das schon), sondern auch die schönen Fliesen, die vielen Grünpflanzen sind für ansonsten berühmt berüchtigte Bahnhofstoiletten eine Augenweide und Freude. Schönen Dank an den Zar (und die jetzt dafür Verantwortlichen).

Bahnhofstoilette in Happsalu

Bahnhofstoilette in Happsalu

Bahnhofstoilette in Happsalu

Bahnhofstoilette in Happsalu

Leider fahren – außer dem kleinen Touristenzug in der Stadt – keine Züge mehr. Die ausrangierten Triebwagen, Loks und Waggons auf den Gleisen kann man nicht als Museums bezeichnen, sondern eher als Schrottplatz.

Anne als Lokführerin

Anne als Lokführerin

Anne auf dem langen Bahnsteig von Haapsalu

Anne auf dem langen Bahnsteig von Haapsalu

Schrottreife sowjetische Triebwagen

Schrottreife sowjetische Triebwagen

Der einzige noch fahrende Zug in Haapsalu

Der einzige noch fahrende Zug in Haapsalu

Auf dem Rückweg durch die Stadt schaute ich im kleinen Laden und Museum Haapsalu Spitzen-Zentrum vorbei. Um 1850 entwickelte sich die handwerkliche Kunst des Strickens mit hauchzarter Wolle. Die vermögenden Besucherinnen von Haapsalu verhalfen den Einheimischen Frauen zu gutem Einkommen, allerdings dauert das Stricken eines Schultertuches aus sehr feinem Garn 80 Stunden und länger. Der Ehrgeiz ist es, das feine Material so zu verarbeiten, dass man es durch einen Ring ziehen kann! Die Tücher wurden von Generation zu Generation weiter gereicht. Ich schaute nur und staunte über solch feinste Arbeiten, der Preis von 160 bis 200€ für ein Schultertuch schien mir mehr als gerecht.
Nun aber zu Ilon’s Wonderland, zum Ilon Wikland Museum (eröffnet in 2006/erweitert 2009). Die Illustratorin erlangte Berühmtheit, als Astrid Lindgren sich für sie entschied und sie die Bücher der schwedischen Autorin illustrieren durfte. Ilon, ein Kind Haapsalus, musste einen langen und teilweise schmerzlichen Weg gehen, bis es dazu kam. Ihre Eltern hatten sich getrennt und sie kam in die Obhut ihrer sehr liebevollen Großeltern, das war der glückliche Teil und begründete vielleicht ihre Art des Zeichnens, ein Abbild aus glücklichen Kindertagen auf dem Lande.

Frederick auf der Couch in Ilon's Wonderland

Frederick auf der Couch in Ilon’s Wonderland

Anne im Kinderspielzimmer

Anne im Kinderspielzimmer von Ilon’s Wonderworld

Ilon Wikland gibt den Kindern (und Kind gebliebenen Erwachsenen) mit diesem Erlebnismuseum viel zurück. Es kann gespielt, gemalt, getobt und Quatsch gemacht werden in dem dreistöckigen Gebäude. Originalzeichnungen wie Karlsson vom Dach schauen auf einen herab, in allen Räumen leuchten einem die buntesten Farben entgegen, wunderschön! Einen kleinen romantischen Cottage-Garten mit Spielgeräten gibt es auch, ein Kindertraum!

Karlsson vom Dach, gezeichnet von Ilon Wikland

Karlsson vom Dach, gezeichnet von Ilon Wikland

Garten von Ilon's Wonderworld

Garten von Ilon’s Wonderworld

Dass man in Haapsalu in kleine, feine Restaurants und Cafés geradezu hineingezogen wird, versteht sich von selbst. Obwohl wir merken, dass die Saison dem Ende zugeht. Es geht ruhig zu in dieser Stadt, sogar an einem Samstag. Zum Kaffee kehrten wir im Hermanns ein und konnten draußen auf der Terrasse sitzen, die Pause hatten wir nötig!

Frisch gestärkt spazierten wir zur Bischofsburg, einem mittelalterlichen aus dem 13. Jahrhundert stammenden Gebäude- und Domkomplex im Herzen der Altstadt. Es ist eine der am besten erhaltenen Burgen Estlands und wurde bis ins 17. Jahrhundert genutzt. Zwar kostete der Eintritt 7€ pro Person (ohne Rentnerrabatt!), aber die fantastische Ausstellung mit vielen Erklärungen zum Mittelalter war jeden Cent wert. Wir staunten nicht schlecht darüber, wie modern die Darstellungen und Schautafeln (in Englisch) waren.

Sehr gute Ausstellung in der Bischofsburg

Sehr gute Ausstellung in der Bischofsburg

Burgruine der Bischofsburg

Burgruine der Bischofsburg

Vom Turm aus, in etwa 38 m Höhe, hat man einen wunderschönen Blick über die Stadt und die Ostsee. Der Fotograf war hier wieder gefragt und war nicht zu halten. Ich war auch mit aufgestiegen, um mir selbst zu beweisen, dass ich einiges an Höhe noch aushielt … ging dann aber doch ziemlich zügig wieder runter!

Blick aus einem Turmfenster

Blick aus einem Turmfenster

Burgturm

Burgturm

Blick vom Burgturm auf den See

Blick vom Burgturm auf den See

Die berühmteste Legende Estlands spielt hier und besagt, dass sich an den Wänden der Kapelle der Burg in Vollmondnächten im August ein Gespenst zeigt: die Figur einer weiß gekleideten Frau! Während der Herrschaft des Bischofs hatten sich die Kirchendiener zu einem keuschen und tugendhaften Leben verpflichtet. Bei Todesstrafe verboten war Frauen der Zutritt zur Bischofsburg. Jedoch – und hier kommt’s – hatte sich ein Geistlicher in ein estnisches Mädchen verliebt und umgekehrt! Als Chorknabe verkleidet und so unentdeckt lebte sie lange Zeit mit ihrem Geliebten, bis während eines Besuches des Bischofs „die Bombe“ platzte und die Geschichte ihr trauriges Ende nahm.

Das Mädchen wurde bei lebendigem Leibe in die Wände der Kapelle eingemauert, lediglich einen Krug Wasser und ein Stückchen Brot hinterließen ihr die mitleidigen Maurer. Ihren Geliebten ließ man im Gefängnis gleich verhungern … Irgendwann verstummten ihre Hilfeschreie … ihre Seele jedoch findet keine Ruhe. Seit Jahrhunderten geistert sie nun umher (und zieht damit eine Menge Touristen an). Wir hatten den Zeitpunkt verpasst und sie nicht „angetroffen“. Jedes Jahr wird in der Burg im August bei Vollmond das Musikfestival „Zeit der Weißen Dame“ abgehalten. Ein schwacher Trost für ein damals jung beendetes Leben, aber wenigstens wird ihrer gedacht!

Genug mit Grusel – auf dem gepflegten Burggelände im Sonnenschein war es einfach nur schön. Kinder können nach Herzenslust toben. Sitzreihen waren aufgestellt, bestimmt gibt es in der Saison (Juli und August) Ritterspiele und sonstigen Tam-Tam!

Frelichtbühne im Burggelände

Frelichtbühne im Burggelände

Kinderspielplatz auf dem Burggelände

Kinderspielplatz auf dem Burggelände

Am Ende des Tages mussten wir noch im modernen Einkaufszentrum unsere Lebensmittelvorräte aufstocken. Bei einigen Artikeln kamen wir ins Grübeln und diskutierten im Coop, um was es sich wohl handeln könnte. Da sprach uns eine nette Dame an und fragte auf deutsch, ob sie helfen könne. Es entspann sich ein längeres Gespräch. Sie war Finnin, lebte aber nun hier. Sie berichtete auch über die Schwierigkeiten des hohen Lebensstandards in Helsinki und generell Finnland. Als Rentner hätte man es dort sehr schwer, deshalb zögen doch so einige nach Estland, wo das Preisgefüge ein deutlich günstigeres ist. Rafaela sprach sehr gut Deutsch, weil sie acht Jahre lang in der Schweiz gelebt hatte und in der Hirnforschung tätig gewesen war. Später war sie in Missionsarbeit involviert und hat 50 Länder bereist! Eine interessante und nette Begegnung.

Leider sind sogar Campingplätze teilweise nur mit Waschmaschine, jedoch ohne Trockner ausgestattet, so auch der in der Nähe gelegene Platz. Das hilft uns aber nicht, da wir uns dort nicht – nur zum Waschen.- zwei oder drei Tage (bis die Wäsche auf der Leine getrocknet ist) einbuchen wollten. Unsere nächste Hoffnung auf das Waschen und Trocknen setzten wir nun auf den Yachtclub auf der Insel Muhu, Daumen drücken …

Wieder im Wohnmobil wurde es Zeit für das Abendessen, es gab gebratene Pfifferlinge, Kotelett und Broccoli, zum Nachtisch Eis und viel Lektüre im Anschluss. Schließlich gibt es über Haapsalu Vieles zu berichten.

Sonntag, 1. September 2019

Wieder war am Morgen ein strahlend blauer Himmel über uns, ein paar weitere Wohnmobile hatten sich über Nacht hinzugesellt, Deutsche, Niederländer, Esten. Dies war aber auch ein zu schöner Platz!

Trotzdem rüsteten wir uns zur Abreise. Als wir gegen 12 Uhr durch die Hauptstraße Haapsalus fuhren, war im Kulturzentrum ordentlich was los und wir hielten noch schnell mal an. Eine Band spielte dort auf dem Vorplatz (offenbar Abgesang auf die Sommersaison), Familien mit Kindern hatten sich versammelt und genossen die Freizeit, hatten Spaß mit Luftballons und ihren Kleinen. Frederick schoss noch ein paar Fotos und dann ging es weiter zum nächsten Ziel, dem Segelhafen in Kuivastu auf der Insel Muhu auf dem Weg zur Insel Saareema.

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