Étretat
Mittwoch, 4. Oktober 2017
Frederick war nach Baguette zumute zum Frühstück, schnappte sich das Fahrrad und düste ins Zentrum. Ich deckte inzwischen den Tisch. Ruck-zuck war Frederick wieder zurück, er war nicht an der langen Promenade entlanggefahren, sondern hatte sich eine Abkürzung durch das Wohngebiet gesucht. Wir ließen uns viel Zeit auf diesem Platz, zumal auch das Wetter toll war. Endlich packten wir unsere Sachen und auf ging es zum nächsten Ziel: Etretat. Um den Stellplatz verlassen und durch die Schranke fahren zu können, muss man einen Zahlencode eingeben, der auf der Quittung steht. Ich machte das, aber es passierte erstmal gar nichts. Frederick rollte mit den Augen, stieg aus und versuchte es selbst noch einmal. Die Schranke rührte sich nicht. Sein Blick fiel auf ein Schild mit viel französischem Text und der Zahl 12 und identifizierte den Text als: … ist bis 12 Uhr zu verlassen, ansonsten muss für einen weiteren Tag bezahlt werden. Es war 12.40 Uhr, da hatten wir uns wohl zu viel Zeit gelassen.
Dem Text war eine Telefonnummer angeschlossen und Frederick versuchte es einmal mit seinen französischen Sprachkenntnissen. Es meldete sich auch gleich jemand. Zum Glück konnte Frederick ins Englische wechseln. Ein netter Mensch am anderen Ende der Leitung verstand sofort, worum es ging und war innerhalb von drei Minuten da, um die Schranke für uns zu öffnen! Er wünschte uns eine gute Reise und weiter ging die Fahrt. Ich sag’s ja, nett sind die Franzosen! In diesem Landstrich, Bretagne und Normandie, wird man häufiger von wildfremden Leuten gegrüßt als in Malente. Offenbar ist es eine besondere Höflichkeit, wie wir sie auch aus England, speziell Cornwall kennen. Das gilt natürlich eher für ländliche Bereiche und ist in Großstädten natürlich anders.
Für diese etwa zweistündige Strecke wählten wir die Route entlang der Küste. Wir lernten weitere schöne Seebäder im Vorbeifahren kennen, wie Blonville-sur-Mer, Benerville-sur-Mer und weitere hübsche Orte. Wir näherten uns der Stadt Deauville, von der wir auf der Hinfahrt begeistert waren, wie auch vom Nachbarort Trouville, kamen am internationalen Flughafen Deauville vorbei und sahen gerade ein großes Flugzeug gen Himmel aufsteigen. Endlich kam eine der Brücken über die Seine in Sicht, Pont de Tancarville. Die Mautgebühr betrug nur 3,20€.
Ich hatte Frederick gebeten, nach Le Havre reinzufahren, der großen Hafenstadt, am Ärmelkanal gelegen. Mein Vater war dort als zwanzigjähriger Mariner im Krieg stationiert gewesen. Mit seinen etwa 193.000 Einwohnern ist sie die größte Stadt der Normandie. Schon während der Zufahrt wurde mir ganz mulmig. So viel Verkehr waren wir gar nicht mehr gewohnt. Plötzlich eingereiht in den Strom der ins Zentrum fahrenden Autos, mussten wir mit.
Im Krieg schwer zerstört, wurde Le Havre nach Plänen des Architekten Auguste Perret und seinem Team von 60 weiteren Architekten zwischen 1945 und 1954 wieder aufgebaut, und zwar so interessant, dass u.a. der Stadtkern in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurde.
Wir fuhren an einer schicken und supermodern gestalteten Hafenzeile vorbei, hatten soeben ein gigantisches Stadion in Blau (Stade Océane) passiert.
Dann bogen wir schnellstens bei der nächsten Möglichkeit in Richtung Étretat ab. Raus aus dem Gedrängel!
Nein, Großstädte sind wirklich nichts mehr für uns! Es sei denn, man fliegt dorthin und macht eine 5-tägige Städtereise dorthin, dann ist es bestimmt ein lohnenswertes Ziel mit Museumsbesuchen etc. Wir hatten ja nicht mal einen Wohnmobil-Stellplatz dort gefunden und wollten nur noch weg!
Nur einen Steinwurf (etwa 20 Minuten Fahrtzeit …) waren wir von Étretat entfernt. Wir verdanken den Tipp, diesen Ort unbedingt zu besuchen, Erika und Udo, den beiden netten Deutschen vom Stellplatz in La-Rivière-Saint-Sauveur bei Honfleur.
Für die Übernachtung hatten wir uns für den Campingplatz in Étretat entschieden, da wir noch einmal Wäsche waschen mussten. In der Anmeldung bezahlten wir 13€, für Waschmaschinen- und Trockner-Nutzung wurden nur 4€ verlangt, spottbillig also – und bis 22 Uhr konnte man waschen!
Der Platz war nicht mehr gut besucht, auch hier standen wieder alle Anzeichen auf “Saisonende”, und richtig: am 15. Oktober schließt der Campingplatz seine Pforten und öffnet sie erst wieder am 1. Mai. Umso besser für uns, wir hatten freie Platzwahl auf diesem herrlich ruhig gelegenen Campingareal im Grünen. Hier fühlt man sich sehr wohl. Die sanitären Anlagen sind ein bisschen in die Jahre gekommen, aber sauber. Aber jetzt galt es erst einmal “Beine vertreten” bei so tollem Wetter!
Das Seebad Étretat (etwa 1400 Einwohner) ist berühmt für seine steilen Felsklippen mit außergewöhnlichen Felsformationen, von denen der Ort auf beiden Seiten eingerahmt wird. Klar, dass ein Ort bei einer solchen Lage überwiegend touristisch ausgerichtet ist. So entwickelte sich Étretat um die Jahrhundertwende vom Fischerdorf zum Seebad. Das Zentrum, etwa zwei km vom Stellplatz entfernt und deshalb leicht zu Fuß zu erreichen, besteht aus vielen kleinen Hotels, Restaurants, Souvenirläden und anderem. Dort angekommen, ist man auch gleich an der Promenade und am Meer.
Wunderschön! Der Strand ist – bei näherem Hinsehen – ein Schock: ein Pebble Beach, so würde man ihn in England bezeichnen, also ein Strand bestehend aus rund geschliffenen Strandkieseln. Steine sammeln ist bei Strafandrohung von 90€ verboten. Überall sehen wir die Schilder. Denn die Kiesel dienen dem Küstenschutz und schützen das Dorf vor der Flut! Hier erwischt es uns endlich einmal, das Steine-Sammelverbot, das uns ein Freund bereits prophezeit hatte … er hatte mich gewarnt, dass wir mit unserer Sammelei noch mal im Knast enden würden, hier wäre die Chance dafür! Aber wo es Verbote gibt, sammeln wir natürlich NICHT! Mich reizten diese Steine aber auch wirklich gar nicht, es ist so typisch: alles im Überfluss wird uninteressant. Hier gibt es nicht ein Fleckchen Sand, NUR Kiesel, große und kleine und ziemlich rutschige. Darauf läuft es sich ganz schwierig und es macht so gar keinen Spaß! Man will also gar nicht an den Strand.
Nichts wie zurück auf die schöne Promenade. Hier schaut man staunend nur nach rechts und links, denn dort sind die fantastischen Felsformationen zu sehen, von denen wir gehört hatten. Überwältigend! Ein Traum, sie mit eigenen Augen zu sehen! Und dann bei dem wunderbaren Licht (das der Fotograf ja braucht!). Wir stiegen mit einigen anderen Touristen den Küstenwanderweg hinauf, um die beste Position für spektakuläre Fotos zu bekommen. Beim Aufstieg konnten wir auf einen schön angelegten, aber sicher nicht einfach zu spielenden (Höhenunterschied! “Bergziegen”-Golf!) Golfplatz blicken.
Man hatte uns nicht zu viel versprochen: Atemberaubende Ausblicke, unglaublich schöne Möglichkeiten für besondere Fotos taten sich auf! Es war ein Gewusel dort oben, die Besucher, bewaffnet mit besten Kamera-Ausrüstungen oder nur dem Telefon für’s Selfie. Unvergessliche Augenblicke dort oben im Wind! Wir mussten uns förmlich losreißen vom Anblick, den die Natur uns hier bot und begaben uns auf den Rückweg.
Schnell lernten wir das kleine gemütliche Zentrum kennen und lieben. Auch hier eine Architektur, die begeistert. Weder Cottage noch Stadthaus, keine Granitquader sondern aus kleinen zu Quadraten geschlagenen Flintsteinen bestehen die Mauern der Häuser. Außerdem viel Fachwerk. Die Dächer aus Schiefer oder gebrannten Ziegeln, Türmchen, filigraner Schmuck, – für unser Auge ungewöhnlich und einfach nur entzückend. Ein Ort zum sich-wohl-fühlen. Wenigstens zum jetzigen Zeitpunkt, im Sommer ist es sicher touristisch überlaufen.
Wir konnten uns nicht satt sehen und durchstreiften jede Gasse. Im stillen hatten wir uns schon entschieden, eine zweite Nacht zu bleiben. Die Pflicht rief, wir mussten ja noch waschen und es war mittlerweile spät geworden. Nichts wie zurück zum Platz und waschen, kochen, essen, abwaschen – und Schluss!
Am Abend sind wir nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal ins Zentrum spaziert. Hübsch sah es dort aus mit den beleuchteten Restaurants und Bistros. Unser Ziel aber war die Promenade, von der aus man die angestrahlten Klippen bewundern kann. Und es war tatsächlich ein traumhafter Anblick, vor uns das brausende Meer und das Klickern der hin- und her rollenden Steine. Sturm kündigte sich an.
Donnerstag, 5. Oktober 2017
Nachts wurde es immer stürmischer. Doch trotzdem schliefen wir sehr gut. Während wir es gemütlich hatten, taten uns die jungen Deutschen, die per PKW und Iglu-Zelt angereist waren, doch etwas leid. Wir hätten fast gedacht, dass ihnen das Zelt um die Ohren geflogen wäre, doch es stand noch am selben Platz und unverzagt brachen sie heute morgen fröhlich auf in den Ort zum Frühstücken.
Wir wussten, dass gegen 12 Uhr mittags der Wasserstand am höchsten war und wollten uns das Spektakel mit den hohen Wellen an der Promenade nicht entgehen lassen. Also war langes Frühstücken angesagt, bevor wir dann zum Sturmwellen gucken loszogen. Es war dann doch sehr berauschend, den riesigen Wellen zuzusehen, die die Strandkiesel mit Leichtigkeit in die Luft schleuderten.
Nicht nur wir hatten uns eingefunden, sondern weitere Zuschauer, auch eine Schulklasse aus Deutschland, auf Geschichts- und Erlebnistrip in der Normandie. Mehr Historie und Natur kann man den Kids wirklich nicht bieten! Wir mussten uns wirklich von dem Schauspiel der Wellen losreißen. Der Sturm war schon heftig. Daher entschieden wir uns zum Rückweg zum Stellplatz.
Wir kamen übrigens stets an der Villa und dem Garten des Schriftstellers Maurice Leblanc (1864 – 1941) vorbei. Er gilt als Vater des Kriminalromans, schrieb aber auch Abenteuerromane, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Der Meisterdieb Arséne Lupin (1905 erschien die erste Geschichte, wegen des Erfolges geriet sie dann zu einem Fortsetzungsroman) ist seine bekannteste Kunstfigur. Die Villa beherbergt heute das Museum über Arséne Lupin, leider in der Nachsaison nur samstags und sonntags geöffnet. Wir verpassten es also.
Zum späten Nachmittag beruhigte sich das Wetter, die Sonne kam hervor, so dass wir uns nochmals aufmachten. Diesmal wanderten wir zur Klippe auf der anderen Seite hinauf, dort wo die kleine Kapelle Notre-Dame-de-la-Garde, Schutzpatronin der Seeleute und ein Fliegerdenkmal stehen. Auch ein kleines Museum gibt es dort. Es ist den Piloten Charles Nungesser und François Coli gewidmet. Bei ihrem Versuch, 1927 den Atlantik zu überfliegen, gingen sie verschollen.
Auf dem Rückweg zum Stellplatz schauten wir noch einmal bei der Markthalle vorbei. Sie ist eine Rekonstruktion des ursprünglichen Holzbaus. Heute beherbergt sie kleine Läden, die regionale Produkte wie Calvados, Camembert, Cidre sowie Kunstgegenstände und Souvenirs anbieten.
Mittlerweile war es fast windstill und die Nacht war vollkommen ruhig.
Wir genossen das Fußballspiel Deutschland gegen Nordirland (3:1) und es wurde noch spät.